Freitag, 30. Mai 2008

Eine erste Ausbeute

aus meinen neuen Büchern (s. u.) ist die (Neu)entdeckung des indischen Dichters Rabindranath Tagore. Ich lese gerade sein Gitanjali (Sangesopfer) und bin fasziniert. Wenn ich nicht wüsste, dass er ein Brahmane war und in der hinduistischen Tradition stand, würde ich wohl viele seiner Gedichte christlichem Denken und Fühlen zuordnen. Nicht dass Christen die Weisheit gepachtet hätten. Aber seine Worte sind derart, das ich mich in seinen Sehnsüchten, Träumen und Gefühlen der Scham, des Schmerzes und der Trauer verlieren und wiederfinden kann - im Angesicht des einzigen und lebendigen Gottes. Ich finde das erstaunlich und bin einigermaßen elektrisiert.
Kostproben gefällig?

"Fern von dir und ohne einen Blick auf dein Gesicht,
Kennt Ruhe nicht mein Herz noch Rast,
Und meine Mühe wird endlose Plage
In einer uferlosen See von Plagen."

oder:

"Wenn ich versuche, tief vor Dir mich zu verneigen,
Kann meine Ehrfurcht nicht herunter reichen
Zu jenen Tiefen, wo Deine Füße ruhen
Inmitten der Ärmsten, Niedrigsten und ganz Verlorenen."

oder:

"Meiner Wünsche sind so viele, und mein Begehren
Schreit so mitleidheischend.
Doch immer hast Du mich gerettet durch Dein hartes Nein.
Und diese strenge Gnade hat mein Leben durch und durch geformt.
...
Und weil Du mich von Zeit zu Zeit zurück weist,
So machst Du Tag für Tag mich Deiner Gnade wert,
Und so bewahrst Du mich vor den Gefahren
Unsteten, weichlichen Begehrens".

oder:

"Er, den ich mit meinem Namen nenne, trauert tief in seinem Kerker.
Und stets geschäftig türm ich weiter Steine rings um ihn herum.
Doch wie die Mauer in den Himmel steigt, so Tag um Tag verliere ich
Im Dunkel ihres Schattens mehr vom Ausblick auf mein wahres Sein."

oder:

"Wo der Geist ohne Furcht ist,
Und Menschen das Haupt aufrecht tragen,
Wo das Wissen frei ist,
Wo noch nicht enge Mauern die Welt in Teile zerbrechen,
Wo Worte aus der Tiefe der Wahrheit kommen,
Wo rastloses Streben sich streckt nach Vollendung,
Wo der klare Strom der Vernunft noch nicht im öden Wüstensand
Toter Gewohnheit versickert,
Wo der Geist vorwärts geführt wird durch dich
In immer weitere Horizonte von Gedanke und Tat -
Zu diesem Himmel der Freiheit, mein Vater,
Lass mein Land erwachen!"

Und zum Schluss eine Mahnung (vielleicht an alle "rechtgläubigen" Christen, die allzu ängstlich über dem "Wort" wachen und darüber das Herz des Evangeliums vergessen):
"Wenn ihr eure Türen allen Irrtümern verschließt, schließt ihr die Wahrheit aus."



4 Kommentare:

c'est moi hat gesagt…

Sehr schön!

Anonym hat gesagt…

In der Tat bewegende Worte.

Das passt ja genau in diese Diskussion:

http://kellion.wordpress.com/2008/05/26/spiessige-identitatsverteidiger/

Anonym hat gesagt…
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
Anonym hat gesagt…

@Thorsten: Danke für den Tipp! Ja, ich denke, wenn Jesus Herr über mein Leben ist, brauche ich keine Angst vor Berührung oder gar Infizierung mit anderen Religionen zu haben, denn erstens: Qualität (Wahrheit) setzt sich durch, und zweitens: Da kann man gut - so wie du es schreibst - zwischen Sprache/Form und Inhalt unterscheiden.
Und letztlich war auch Tagore auf der Suche nach dem einen Gott. Ob er ihm bereits auf der Spur war (er studierte in England und muss daher auch mit dem Christentum in Berührung gekommen sein), weiß ich aber nicht.