Dienstag, 8. Juli 2008

Wurzeln


Gerade war ich mit meiner Mutter zwei Tage in Witten/Ruhrgebiet, um Schwester und Schwager zu besuchen - seit sieben Jahren war ich wohl nicht mehr an der Stätte meiner Kindheit. Fortgezogen war ich vor 27 Jahren. Ein merkwürdiges Gefühl, die Orte aufzusuchen, wo ich aufgewachsen bin. Alles scheint enger und kleiner zu sein. Die Straßen sind schmaler und kürzer als in meiner Erinnerung, die Staßenschluchten dunkler, die Stadt bedrückender. Ruß- und kohlenstaubgeschwärzte Hausfronten, wahllos verbaute Innenstadt, viele ungepflegte Mehrfamilienhäuser.


Aber das alles inmitten wunderbar grüner Landschaft: ein herrliches Ruhrtal, große Mischwälder, Burgruinen, Parks, der Hammerteich, der Kemnader Stausee, das Bergerdenkmal hoch über den Ruhrwiesen.
Genau so zwiespältig ist mein Verhältnis zu meiner Heimat und meiner Kindheit. In den 60ern aufgewachsen, herrschte im "Revier" eine Atmosphäre enger Kleinbürgerlichkeit und Moral, gemischt mit rauer, polteriger Herzlichkeit und Stolz auf seiner Hände Arbeit. Ruhrpottler können ranklotzen. Bergbauer, Stahlarbeiter, Gemischtwarenhändler. Schrebergärten, Gartenzwerge, der Kiosk um die Ecke, das verdiente Bier am Abend. Heute nennt man die zu Industriedenkmälern gewordenen Zechen, Kokereien und Hochöfen der Eisen- und Stahlhütten "Kathedralen der Arbeit".
Mein Vater war selbstständiger Handwerker, sein Fleiß und seine stille Zuverlässigkeit hat er uns fünf Kindern vererbt. Das Leben war hart, Geld war immer zu knapp, Zeit auch, und man musste sich durchkämpfen. Meine Schwester und ich schwelgen in Erinnerungen. Auf den Tisch kamen Steckrübeneintopf und Brotsuppe. Zum Geburtstag mal Kakao, aber niemals Limonade wie bei meinen Freundinnen. Wenig Spielzeug. Wir behalfen uns mit Phantasie. Laubhütten im Feld, Rollschuhrennen bis zum Ende der Straße (und Löchern in der Strumpfhose, wenn man mal wieder hingefallen war), Sandkochen auf einem ausrangierten Herd, der bei irgendwem im Garten stand. Eine Kindheit wie viele. Glücklich? Ja .... aber auch nein. Die oft empfundene Bedrückung konnte ich nur beim Spielen vergessen.
Es war schön, sich in den letzten Tagen mit meiner Schwester auszutauschen. Spazieren zu gehen. Die Wälder mit dem alten Baumbestand, der Blick ins Ruhrtal. Das Elternhaus, in dem sie jetzt mit ihrer Familie wohnt und in dem durch ihre schöne Umgestaltung Licht, Luft, Weite und Farbe eingezogen ist. Dann ein Zusammentreffen, bei dem ich mir das Lachen verkneifen musste: als meine Mutter, meine Schwester und ich gerade wieder ins Haus gehen wollten, kam ein Nachbar mit seinem Haund auf uns zu, ein alter Schulkamerad meiner Mutter und ein Ruhrpottoriginal, wie es im Buche steht. Vergleichbar mit Jürgen von Manger alias Adolf Tegtmeier (gesprochen:"Teechtmaja"), ein Schauspieler, der in den 70ern sehr populär war, mit dem breitesten Ruhrpottslang, den man sich vorstellen kann. Zitat: „Wilhelm Tell, dat is von diesen berühmten Dichter, na, ich komm’ jetz nich auf den sein Name – der auch Schillers Räuber geschrieben hat. – Merkwürdig, wat dieser Tell sachte, dat war’n alles Sprichwörter, Die Axt in Haus … und wat er da alles von Stapel ließ.“
So auch der gut 80jährige Hellmut, der meine Mutter ansprach: "Also, hömma, wenn dat nich die Christel is ..." Und es folgte ein Redeschwall, den man in Norddeutschland als Seemannsgarn bezeichnen würde. Ereignisse aus der Nachbarschaft und der alten Klasse wurden aufgefrischt. "Ey, hömma, die Wilma, mit der is ja auch nich mehr viel los, die is ja auch schon ganz klapprich, wonnich?" So ging's weiter, und ich habe mich königlich amüsiert. Nachdem er dann uns drei Damen noch jeder einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte, brauchten wir erst einmal eine Erholungspause.
Gut war es, mit meiner Schwester noch einmal über unseren Vater zu sprechen, der vor drei Jahren verstorben ist. Über seinen Charakter, über sein Leben, über seine Krankheit und sein Sterben. Das alles geht uns immer noch nach und nah.
Schöne Tage. Aber ich spüre auch, dass mein Herz die alte Heimat längst verlassen hat und frische Wurzeln in meiner liebenswerten norddeutschen Heimat geschlagen hat, dort, wo das Meer den Rand Deutschlands berührt, wo Himmel und Horizont weit sind und die Wege eben, wo Freiheit weht und Luft zum Atmen ist.

1 Kommentar:

Ralf hat gesagt…

Wow! Sehr tief und schön der Text!