Dienstag, 15. Januar 2008

Die Kraft der Schönheit

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge zieh'n.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang.
Und ich weiß nicht: Bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.

Rainer Maria Rilke (Abschnitt aus "Das Stundenbuch")


Diese Worte von einem meiner Lieblingslyriker umhüllen meine eigenen Empfindungen und treiben mit ihnen wie zarte und zerbrechliche Seifenblasen gen Himmel. Sie sind so schön, dass es mir einen Stich gibt und sie in mir eine undefinierbare Sehnsucht wecken...

Wie kommt es nur, dass ein von Nietzsche und Schopenhauer beeinflusster und vom pantheistischen Weltbild geprägter Dichter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts etwas schreiben kann, dass ich als Christ des 21. Jahrhunderts so intensiv nachvollziehen kann?
Hat es etwas damit zu tun, dass wir im postmodernen Zeitalter wieder besser diesen literarischen Symbolismus verstehen können, der eine Reaktion war auf die damaligen großen gesellschaftlichen Umwälzungen und historischen Ereignisse des beginnenden Jahrhunderts, wie z. B. der Industrialisierung, des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts, der großen Unsicherheiten wegen ganz neuer Entdeckungen in Mathematik und Physik (Relativitätstheorie!) usw.? Bisherige Erkenntnisse wurden immer wieder in Frage gestellt, nichts war mehr so sicher wie "früher". Schon damals gab es eine Krise der herkömmlichen Religion und Moral. War das nicht ein ganz ähnliches Lebensgefühl wie wir auch heute empfinden? Und suchen wir - wie die Dichter des Symbolismus - deswegen nicht auch einen höheren Sinn in den Dingen, ein zeitloses, gültiges Wesen mitten in äußeren Gegebenheiten, eine geheime Verbindung zwischen der äußeren und der inneren Welt?

Oder liegt meine Affinität zu Rilkes Gedichten einfach daran, dass Schönheit immer auch Wahrheit enthält? Weil alle wahre Schönheit ihren Ursprung in Gott hat, auch dann, wenn der verursachende Künstler selbst nicht an einen persönlich erfahrbaren Schöpfer aller Dinge glaubt und aus meiner (christlichen) Sicht so manche falschen Schlüsse aus seinen Erfahrungen/Beobachtungen gezogen hat?
Für jeden Menschen ist Schönheit etwas anderes, und wir können sie oft nur bruchstückhaft wahrnehmen. Aber wir spüren sofort, wenn wir es mit ihr zu tun haben. Sie hebt unser Leben aus Profanität, Gleichmass und Langeweile heraus. Sie zieht uns hin zu einem Horizont, den wir noch nicht erreicht haben. Sie trägt uns näher zu Gott. Dafür bin ich so dankbar.

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