Dienstag, 6. März 2007

Gesehen


Der knallrote heliumgefüllte Luftballon schwebt einen Moment auf Hausdachhöhe und steigt dann gen grauen Himmel, während eine erschöpfte Mutter den Kinderwagen mit einem weinenden Kleinkind um die Ecke schiebt. Zwei junge Damen in Teenageruniform ( partiell gebleichte Jeans, um die hübschen Hinterteile zu betonen) queren kichernd die Staße. Ein obdachloser bärtiger Mann im Zwiebellook geht langsam – als sei er zeit- und ziellos - den Gehweg entlang und zieht einen Handwagen mit seinen Habseligkeiten hinter sich her. Eine ältere Dame kniet im krokusblühenden Vorgarten und zupft das erste Unkraut des Jahres.

Ich bin auf dem Heimweg von Hamburg, wo ich ein entspanntes, nettes Wochenende mit meinen Kindern verbracht habe. Es ist Sonntag, ruhig auf der Straße, und ich sehe diese Momentaufnahmen blitzschnell an mir vorbeiziehen. Und ich denke: Hinter jedem Bild steckt eine Geschichte. Hinter jedem Schnappschuss, der sich auf meine Netzthaut brennt, verbirgt sich ein ganzes Schicksal. Ich habe den Impuls, anzuhalten und die Leute nach ihrem Leben zu befragen. Das überrascht mich selbst. Denn eigentlich bin ich ein eher introvertierter Mensch. Und doch - ich habe Interesse an Menschen. Keine ihrer Geschichten gleicht einer anderen. Wie sind sie geworden, wie sie sind? Was hat sie beeinflusst? Welche Menschen in ihrer Umgebung haben eine Rolle gespielt? Welche äußeren Gegebenheiten und Umstände haben sie geprägt? Wie ist ihr Charakter, ihre Lebenseinstellung geformt worden? Welche Ereignisse haben ihrem Leben eine Wendung gegeben? Welche Generationenlast tragen sie mit sich herum?

Es wäre schön, Menschen einfach so in dieser Weise kennen zu lernen. Zu sagen: Hallo, ich habe dich gesehen, und du schaust so traurig aus. Was ist los? Erzähl mir, was dich beschäftigt! Aber das macht man nicht einfach so. Man macht das nicht ... das ist die Schranke, die sich Menschen selbst gesetzt haben. Zum eigenen Schutz. Zur Wahrung der Intimsphäre. Um gesellschaftliche Gepflogenheiten nicht zu verletzten. Um sein Inneres nicht hilflos der Öffentlichkeit preisgeben zu müssen.

Dabei hat doch jeder Mensch die Sehnsucht in sich, gesehen zu werden. Dass da jemand ist, der weiß, wie es in mir ausssieht. Dass ich mit dem, was mich ausmacht, wahrgenommen und angenommen bin. Dass jemand freundlich zu mir ist, obwohl ich so bin, wie ich bin.

Und dann denke ich: Gott kennt jede Geschichte. Jedes Gewordensein. Jeden Trümmerhaufen hinter schöner Fassade. Alles das, was wir meinen, verbergen zu müssen ... Und er schaut uns freundlich an. Und wartet darauf, dass wir bereit sind, ihm unsere Geschichte zu erzählen. Er interessiert sich für uns. Brennend. Aber auch er verletzt keine unserer Konventionen. Er drängt sich nicht auf. Er wartet einfach.

Oder wartet er darauf, dass die, die ihn schon kennen, sich um die kümmern, die ihn nicht kennen? Dass wir Gottes freundliche Stimme werden, mit seinem Blick in fremde Augen schauen, seine Hand auf mutlose Schultern legen?


2 Kommentare:

Ralf hat gesagt…

Ps: Dito wegen dem WE! Auch wenn wir ziemlich zerstört waren... :-)

Anonym hat gesagt…

Tja, die Rache erfolgte wohl in Form mangelnder Abwehrkräfte und grippalem Infekt. Das böse Gesetz von Ursache und Wirkung! ;-)